„Unternehmen gehen zu sorglos mit ihren Kronjuwelen um“

Interview mit Friedrich Christian Haas, Geschäftsführer von AKE SKABE: Die Bielefelder Spezialisten für Risiko- und Krisenmanagement bieten mit Partnern auf der ganzen Welt Sicherheitskonzepte und -lösungen, unter anderem für die Sicherung von Warenketten und Handelswegen. Ein Expertengespräch über Sicherheit von deutschen Unternehmen im Ausland, aktuelle Bedrohungen durch Wirtschaftskriminalität, die Gefahren für die Waren- und Lieferketten und über die aktuelle Situation in der Türkei sowie die möglichen Folgen für deutsche Firmen.
Herr Haas, das Thema Sicherheit stand seit dem Ende des Kalten Krieges nie mehr im Fokus als aktuell. Inwiefern sind die Zeiten für Unternehmen, besonders im Ausland, unsicherer geworden?
Unternehmen müssen rechnen und brauchen ein gewisses Maß an Berechenbarkeit, um planen, produzieren und liefern zu können. Anfang der 1990er Jahre verbreitete sich das Gefühl, unterstützt durch Bücher von Bestsellerautoren wie Francis Fukuyama („Das Ende der Geschichte“) oder Robert Friedman („Die Welt ist flach“), dass das kapitalistische System gewonnen habe und es nur eine Frage der Zeit sei, bis alle Staaten nach denselben Spielregeln des Marktes in einer friedlichen Welt arbeiten würden. Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, mitten in Europa, hätte uns eines Besseren belehren sollen. Auch nach dem 11. September wollte man nicht wirklich umdenken. Die Finanzkrise seit 2007 war ein weiterer Warnschuss, bis dann 2011 der rapide Verfall von Sicherheit und Ordnung, von Stabilität in Nord- und Subsahara-Afrika sowie im Nahen Osten uns alle Illusionen nahm. Die aktuellsten Ereignisse in dieser traurigen Kette sind der Krieg in der Ukraine, gefolgt von den Russlandsanktionen und der Putsch in der Türkei. Oben drauf führten Flüchtlings- und Migrationsströme bisher nicht gekannten Ausmaßes und Terroranschläge in Europa dazu, dass LKWs wieder an innereuropäischen Grenzen mit nicht kalkulierbaren Wartezeiten und vermehrten Kontrollen konfrontiert sind. All das eröffnet auch der Kriminalität neue Märkte und Möglichkeiten, denn Sicherheitsbehörden und Justiz arbeiten derzeit ständig am Limit und sind zum Teil heillos überfordert.
Unter diesen Umständen scheint es nicht besonders überraschend, dass die Wirtschaftskriminalität boomt. Ein großer Teil aller wirtschaftskriminellen Delikte wiederum betrifft Betrug innerhalb der Lieferkette. Welche Bereiche der Lieferkette sind nach Ihrer Erfahrung im Ausland besonders gefährdet? 
Hier gilt: prüfen! So schwierig das im Preiskampf, gerade in der Logistik ist. Wenn ich nicht mehr weiß, welcher Sub-Sub-Sub-Unternehmer aus Moldawien eigentlich meine Ladung Kupfer im Hamburger Hafen abholt, muss ich mich auch nicht wundern, wenn diese nie ihr Ziel erreicht. Einige Autohersteller mussten auch schmerzhaft feststellen, dass der zielgerichtete Diebstahl hochwertiger Autoteile aus Containern auf Bahnhöfen in Weißrussland nur mit Insiderwissen erfolgt sein konnte. Hier ist eine große Schwachstelle in vielen Unternehmen: Wer muss eigentlich notwendigerweise wissen, wann was wie wohin gehliefert wird – und wo pfeifen es alle Spatzen von den Dächern des Unternehmens? Initiativen für mehr Sicherheit in der Lieferkette wie C-TPAT (Customs-Trade Partnership Against Terrorism), unter anderem mit Audits für den Container- und Luftverkehr, haben hier etwas mehr Bewusstsein für die Risiken geschaffen, aber vielfach wird es mehr als lästige Pflicht denn als Chefsache im Unternehmen gehandhabt. So gehen dann Ladungen auf die Reise, bei denen es ein Kinderspiel ist, den LKW unterwegs mal raus zu fahren und die Ware auszutauschen, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt. Dabei könnte man dem mit zum Teil recht einfachen und intelligenten Mitteln beikommen: Eine Wickelfolie mit dem Logo der Firma, spezielle Containersiegel oder Ähnliches wären vielfach schon ein Anfang; vorausgesetzt Folie und Siegel werden für Dritte unzugänglich aufbewahrt. Wenn die Siegel aber in einem unverschlossenen Schrank liegen, zu dem möglicherweise unbeteiligte Dritte Zugriff haben, unterläuft man leichtfertig die eigenen Sicherheitsmaßnahmen.
Was können beziehungsweise sollten Unternehmen denn mindestens zur Sicherung ihrer Waren- und Lieferketten tun?
Vor allem: Diversifizierung der möglichen Transportwege und Produktionsstätten. Auf den billigsten Produzenten in Asien und Just-in-time-Lieferung zu setzen, würde ich als Casino-Logistik bezeichnen. Das war mal ein schöner Traum von einer Globalisierung in einer idealen Welt. Von diesem Utopia sollte man sich verabschieden, wenn man keine Spielernatur ist und etwas zu verlieren hat. Grundlegend würde ich immer empfehlen: ein solides externes Audit, zum Beispiel als Vorbereitung auf eine Zertifizierung. Das sollte mit einem Workshop starten, bei dem sich Geschäftsführung und Verantwortliche, unter anderem der Logistik, mit den Ergebnissen auseinandersetzen und intelligente Maßnahmen zur Risikominimierung entwickeln, die auch in den Betriebsablauf erfolgreich integriert werden können. Das wiederum sollte immer mit Schulungen für Mitarbeiter kombiniert werden, damit auch diesen die Risiken bewusst und die zu treffenden Maßnahmen verständlich werden. Und das setzt immer voraus, dass jeder Mitarbeiter merkt, dass das Thema Chefsache ist.
Stichwort Marken- und Produktschutz: Einige Branchen wie Automotive oder der Maschinen- und Anlagenbau leiden besonders unter Plagiaten und Fälschungen. Welche speziellen Risiken müssen Unternehmen aus diesen Branchen im Ausland berücksichtigen?
Gerade im Maschinenbau verkürzt sich nach Aussagen unserer Kunden die Zeit, bis ausländische Wettbewerber nach- beziehungsweise gleichgezogen haben. Ein für seine Motorsägen bekannter Hersteller ist schon vor Jahren dazu übergegangen, nicht mehr Zeit und Geld in Patentschutz zu investieren, sondern stets qualitativ und technologisch die Nase vorn zu haben. Hintergrund ist, dass es in vielen Ländern schwierig bis unmöglich ist, Rechtsansprüche gegen Fälscher durchzusetzen. Man setzt darauf, dass der Kunde prüft, was wirklich „Made in Germany“ und der neueste Stand der Technik ist. Ich erinnere mich an einen Servicedienstleister für den Offshore-Markt (Öl/Gas) in Houston: „Wenn Sie einmal ein Plagiat aus China verbaut haben und die Folgekosten sehen, sind sie kuriert und setzen wieder auf Bauteile aus Deutschland, die sie ungeprüft einsetzen können.“
Zu fragen ist dabei immer, wann und wo Wissen abfließt: Es gibt Verträge, die quasi den Investor zur Preisgabe von Wissen zwingen, wenn er einen Standort im Ausland aufbaut. Nach Anlauf einer Produktion vor Ort mit ausländischen Mitarbeitern wächst auch zunehmend das Risiko, dass diese mit neu erworbenen Wissen abwandern. Hierüber zu hadern ist müßig.  Was aber viel öfter passiert, ist, dass deutsche Unternehmen sehr sorglos – zu sorglos – mit ihren Kronjuwelen, ihren Patenten und unternehmensspezifischem Wissen umgehen. Wenn der ausländische Doktorand in der Unternehmenszentrale in Deutschland mit seinem Firmenausweis Zutritt zu allen möglichen Bereichen und Rechnern auch nach 18 Uhr hat, wo er laut Abmachung noch allein im Büro an seiner Doktorarbeit schreiben darf, ist das sicher ein vermeidbarer Abfluss von Wissen.
Auch die Pharma- oder die Konsumgüterindustrien sind stark betroffen. Wie ist es hier mit typischen Risiken – und kennen Sie konkrete Beispiele? 
Es gibt inzwischen Firmen in Hongkong, die offen dafür werben, dass sie Luxusmarken zum halben Preis anbieten, die in denselben Werkstätten in China hergestellt wurden wie die Originale. Das unterstreicht nochmals, dass man sich gegen bestimmte Formen der Produktpiraterie nur schwerlich wehren kann.  Andere Fälscher, zum Beispiel von Generika, nutzen Insiderwissen über Produktion, Verpackung und Vertriebskanäle, so dass selbst Apotheker in einem Fall länger nicht bemerkt haben, dass sie eine Fälschung vertreiben. Zum Glück war in dem Fall die Fälschung auch inhaltlich so gut, dass keine Menschenleben in Gefahr waren. Die Lehre dabei ist, wie wichtig die Verpackung sein kann. Und dass man gegebenenfalls modernen Technologien zur Kennzeichnung von Verpackungen nutzt, damit man die Produkte von Fälschungen unterscheiden kann. Oder: Auch ein Auge darauf zu haben, wer für ein Unternehmen bisher die Verpackungen hergestellt hat, bis er im Preiskampf als Zulieferer ausgefallen ist. Gerade in der Pharmaindustrie kann das Risiko von Reputationsschäden für die Marke höher sein als der Schaden durch eine Fälschung. Daher ist hier vor allem ein hochprofessionelles Krisenmanagement gefragt, das solche Fälle diskret lösen kann. Sonst kann noch eine erfolgreiche Aufklärung zum Bumerang werden.
Es gilt grundsätzlich präventiv zu prüfen, wie hoch das Risiko für ein Unternehmen ist, welche Risiken des Wissensabflusses bei der Produktion im Ausland bestehen, wo Schwachstellen im Wissensmanagement liegen. Behörden wie das Bundesamt für Verfassungsschutz bieten hier unter anderem kostenlose Erstberatung zur Abwehr von Industrie- und Wirtschafsspionage an. Eine international gut aufgestellte Kanzlei verfügt auch über Vorwissen zu solchen Risiken und kann abschätzen, wie hoch die Chance ist, Rechtsansprüche durchzusetzen.
Zum Schluss, aus sehr aktuellem Anlass, ein Blick auf die Türkei. Wie schätzen Sie als Experte die Situation für deutsche bzw. ausländische Unternehmen in Bezug auf Sicherheit und Investitionssicherheit ein? 
Die Bundesregierung hält sich derzeit noch mit Reisewarnungen aus politischen Gründen zurück. Aber wenn deutsche Kreuzfahrtschiffe schon Monate vor dem Putschversuch das Land aus dem Programm genommen hatten, war das auch ein Indikator. Unternehmen brauchen vor allem Rechtssicherheit. Was wir derzeit in der Türkei beobachten, wirft zumindest Zweifel auf, ob diese noch gewährleistet ist: Tausende schlagartig ihres Amtes enthobene Beamte in Justiz, Polizei und Militär sind nicht von heute auf morgen durch qualifiziertes Personal ersetzbar. Der aggressive Ton und Drohungen türkischer Spitzenpolitiker gegenüber Deutschland, sich gegebenenfalls nicht an Abkommen zu halten, Fälle von geduldeter Selbstjustiz nach dem Putsch, Ausnahmezustand und Sondergesetzgebung, Einzug von Vermögen vermeintlicher Regierungsgegner – all das sind Signale, die Unternehmern nicht gerade das Gefühl vermitteln, dass sie sich in der Türkei derzeit auf die Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche verlassen könnten. Manche fragen sich auch, was passiert, wenn Geschäftspartner oder Schlüsselpersonal wie Geschäftsführer oder Vertriebsleiter in den Fokus der Verhaftungswelle geraten sollten.
Nun sind deutsche Unternehmen in nicht wenigen Krisengebieten der Welt unterwegs, aber ein Putschversuch signalisiert immer, dass es kritisch um die Zuverlässigkeit der Sicherheitskräfte bestellt ist. Das wiegt umso schwerer in einem Land, das sich in den kurdisch dominierten Regionen schon länger in einer Art Bürgerkriegszustand befindet und regelmäßig von Terroranschlägen bis in die Metropolen hinein erschüttert wird. Auch wenn das Risiko eines tödlichen Autounfalls in der Türkei weiter höher sein sollte als durch einen Terroranschlag zu sterben, ist die wachsende Unsicherheit und Ungewissheit, wann es wieder zu einem Anschlag kommt, Gift für Geschäftsreisen, zumal sich die Anschläge zunehmend an Verkehrsknotenpunkte und in die Großstädte verlagert haben. Das betrifft vor allem Turkish Airlines und das Luftfahrtdrehkreuz Istanbul.
Das alles muss kein Einstellen der Geschäftstätigkeiten in der Türkei bedeuten. Durch Schulungen zum Thema Reisesicherheit und geeignete Maßnahmen zur Sicherheit der Mitarbeiter bei Reisen und Aufenthalten in der Türkei können Unternehmer auch hier ihrer gesetzlichen Fürsorgepflicht gerecht werden. In der gegenwärtigen Lage sollte unter anderem geprüft werden, wie es um die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung vor Ort bestellt ist. Wie lang liegt die letzte Erste Hilfe-Auffrischung zurück? Es kann dauern bis ein Arzt kommt und sicher wird keine gelber ADAC-Hubschrauber einfliegen. Zum Verhalten bei oder nach Terroranschlägen gibt es auch hilfreiche Verhaltensregeln und ein Monitoring der Sicherheitslage vor und während eines Aufenthaltes in der Türkei gehört dazu. Die Politik der Reisewarnungen zeigt aktuell, dass es sinnvoll ist, hier auch auf externe Anbieter zurückzugreifen. Diese bieten in der Regel auch Möglichkeiten an, aktuelle Reisewarnungen Mitarbeitern direkt via SMS zukommen zu lassen. So kann ein Reiseantritt nochmals geprüft werden oder das Verhalten vor Ort der Lage angepasst werden.
Vielen Dank, Herr Haas, für das Gespräch.

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