Europa am Scheideweg
Quantität vor Qualität – das war das Mantra der Europäischen Union über Jahrzehnte hinweg. Regionale Expansion war das Gebot der Stunde – für die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Nord- und Südeuropa und für eine Angleichung demokratischer, politischer und ebenso wirtschaftlicher Verhältnisse zwischen Ost- und Westeuropa. Damit ist es seit heute vorbei.
Viktor Orbán hat Recht. Er betonte in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament, dass es Ungarn war, das sich als Freiheitskämpfer gegen den Kommunismus und gegen den übermächtigen „Bruderstaat“, die Sowjetunion, stellte. Schon Monate, bevor in Deutschland die Mauer fiel, öffneten ungarische Grenzer den Stacheldrahtzaun zwischen Österreich und Ungarn. Nun wird gegen dieses Land zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union vom Europäischen Parlament aus ein Vertragsverletzungsverfahren initiiert, da es die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 des EU-Vertrages“ (Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, etc.) in Ungarn gefährdet sieht. Die Werte, wegen derer Ungarn sich damals faktisch darum bewarb, in die EU aufgenommen zu werden.
Im Jahre 2003 hatte ein Volks-Referendum in Ungarn ein eindeutiges Ergebnis geliefert: Über 80 Prozent der Ungarn wollten zur Europäischen Union dazu gehören. Haben sich die politischen Überzeugungen in Ungarn innerhalb der lediglich fünfzehn Jahre nun so dramatisch geändert, wenn es um Grundprinzipien wie Demokratie und Menschenrechte geht? Grundlegende politische Überzeugungen wechselt man nicht wie ein Hemd. Es braucht einschneidende Ereignisse. Und die haben vor allem in den ehemaligen Ostblockstaaten mit dem Beitritt zur Europäischen Union stattgefunden. Europa war und ist ein Gegenmodell zum Ostblock. Letzterer schuf staatliche Solidität – auf Kosten von Freiheit und Wohstand. Wirtschaftlich ging er zu Grunde. Europa stand und steht dahingegen für politischen Dissens, einen extrem weit definierten Freiheitsbegriff aber eben auch für wirtschaftlichen Erfolg.
Die ersten beiden Dinge konnten viele Menschen noch ertragen, solange es mit Wohlstand und Prosperität aufwärts ging. Über welche Werte sich Europa definiert, war vielen Menschen sicherlich meist egal. Wenige Menschen sind ein „Homo politicus“. Nicht umsonst nahmen an dem Referendum der Ungarn weniger als die Hälfte der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger teil. Ungarns Referendum verzeichnete mit 46 Prozent die niedrigste Wahlbeteiligung aller Beitrittskandidaten. Europa war eine Möglichkeit, sich in einen extrem erfolgreichen Wirtschaftsraum zu begeben, ebenso wie die NATO einen Schutzschirm gegenüber der UdSSR, der GUS bzw. gegen Russland bot.
Juncker für mehr gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
Europa war – und das ist sicher das Versäumnis der westlichen Staaten – zuerst eine Wirtschafts- und nur nachgelagert eine Werteunion. Größte Zankäpfel waren über Jahrzehnte die Transferleistungen von reichen zu armen Staaten, Agrar- und sonstige Subventionen sowie die Gelder, die im Rahmen des „Aufbaus Ost“ in die Länder des ehemaligen Ostblocks transferiert wurden. Über Werte, Überzeugungen oder Demokratie wurde nicht ernsthaft gestritten, die gemeinsame Basis gab es einfach, beziehungsweise wurde sie einfach vermutet.
Dieser Trugschluss offenbarte sich mit der so genannten Flüchtlingskrise. Von Solidarität zwischen den einzelnen Staaten war nur noch wenig zu spüren. Gemeinsame Überzeugungen gibt es in dieser essentiellen, menschenrechtlichen Frage nicht. Im Gegenteil. Ganz Wirtschaftsunion wird über Kosten und Lasten und Verteilungsschlüssel gestritten. Gleichzeitig wird anhand der politischen Entwicklungen vor allem in Polen und Ungarn offenbar, dass die Mehrheit der dortigen Bevölkerungen (als dass müssen wir ihre Repräsentanten, die jeweiligen Regierungen verstehen) nicht mit der Mehrheitsmeinung vieler der übrigen Länder in Europa übereinstimmen. Ungarn hat heute durch das klare Votum des EU-Parlaments den ersten Denkzettel dafür verpasst bekommen.
Es ist dem wieder loslaufenden parlamentarischen Betrieb in Europa zu verdanken, dass genau an diesem Tage der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, in seiner dem amerikanischen Vorbild entlehnten „Rede zur Lage der Union“ verkündet, in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wieder mehr mit „einer Stimme“ sprechen zu wollen. Ausdrücklich geht es um die Wahrung der Menschenrechte weltweit. Nun ist gerade der heutige Tag ein Beispiel dafür, dass man selbst innerhalb Europas weit davon entfernt ist, hierzu einer Meinung zu sein. Wenn es also die „eine Stimme“ in Europa nicht gibt, soll das Vehikel der qualifizierten Mehrheit genügen. Man stelle sich also vor, Europa beschließt per Mehrheitsbeschluss eine Friedensmission, damit sich bestenfalls polnische und ungarische Soldaten und Polizisten für die europäische Überzeugung von Freiheit und Menschenrechte in Afrika einsetzen sollen? Das wird natürlich nicht funktionieren. Belässt man es statt dessen bei den starken Worten eines scheidenden Kommissionspräsidenten und konzentriert sich einfach weiter auf das Wesen als Wirtschaftsunion? Europa steht am Scheideweg. Der Fortgang des angestrebten Verfahrens gegen Ungarn wird ein Indiz sein, in welche Richtung es geht.