Die Familie hält zusammen

Ein Schlaglicht aus der Berlin Zeitung, wie fast beinahe täglich: „In Neukölln ist am Sonntagabend ein Mann erschossen worden. Die Polizei wurde nach Angaben eines Sprechers gegen 17.40 Uhr „wegen einer Schussabgabe“ in die Oderstraße nahe dem Tempelhofer Feld gerufen. Nach Informationen der Berliner Zeitung handelt es sich bei dem Opfer um den 34-jährigen Intensivtäter Nidal R. Das Mitglied eines arabischen Clans wurde durch zwei Schüsse in den Arm und einem Schuss in die Brust getroffen. Die Tat soll sich vor den Augen seiner Kinder ereignet haben.“
Vater, Mutter, Kind – eine typische deutsche Klischee-Familie. Eine Großfamilie ist natürlich größer. Der „Verband kinderreicher Familien“ zählt dazu Ehepaare ab drei Kindern. Doch so eine „Familie“ umfasst in Berlin gerne auch mal um die 500 Personen. Hier wird der Begriff der Familie also umfassend eingesetzt, vor allem wenn es um kriminelle Clanstrukturen geht. Mit echten Familienverhältnissen hat dies wenig zu tun. Gemeint sind zum Beispiel die so genannten „deutsch-arabischen Großfamilien“, die immer wieder in den regionalen Berliner Zeitungen erwähnt werden. Es geht um Rivalitäten, Konkurrenzkämpfe und Gebietsstreitigkeiten. Es geht um angeblich rechtsfreie Räume, das Faustrecht und Razzien der Polizei.
Einigende Klammer dieser „Familien“-Struktur ist – neben der gemeinsamen regionalen Herkunft eben die Organisierte Kriminalität als Haupterwerbsquelle. Demnach ist auch die Mafia eigentlich gar keine kriminelle Vereinigung sondern ganz lapidar eine „Familie“, wie in einem alten Kitsch-Film. In Berlin scheint es zu stimmen. Hier zählt die Polizei derzeit 12 bis 20 kriminell tätige arabische Großfamilien, je nach Definition. Nicht berücksichtigt hierbei: ebensolche Familienstrukturen aus der Türkei, Asien und Russland, die in Berlin aktiv sind. Da kommt eine Menge zusammen. Die Stadtgebiete sind aufgeteilt. Der typische Berliner Straßenzug, auch „Kiez“ genannt, bekommt in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung. Hier regeln diese Familien Streitigkeiten untereinander, es herrscht das „Gesetz der Straße“. Im tendenziell eher fremdenfeindlichen Ost-Berlin halten sich dem Vernehmen nach Russen und Asiaten auf, im kulturell eher aufgeschlosseneren West-Berlin eben Araber, Türken, Palästinenser, Libanesen und Afrikaner. 
Womit diese Clans ihr Geld „verdienen“ ist deutschen Behörden nicht umfassend bekannt. Die Strukturen sind abgeschottet, Einschleusungen von V-Personen in diese Familien hinein sind so gut wie unmöglich. Anders herum funktionieren solche Einschleusungen durchaus. Der so genannte „Faktenfinder“ von Tagesschau zeigt schlaglichtartig einzelne Fälle auf, wie die Clans ihre Familienmitglieder in die Berliner Polizei hineingebracht haben, sei es als Polizeischüler oder Praktikant. Die Strafverfolgung erleichtern solche unfreiwilligen „Transparenzmaßnahmen“ natürlich nicht, im Gegenteil. Respekt- und furchteinflößend wirkt der deutsche Rechtsstaat auf diese Clans offensichtlich nicht. Die deutsche Polizei ist ein Thema, dass man gerne umgeht aber nicht ernsthaft fürchtet. Im schlechtesten Fall riskiert man eine Zwangspause in einem deutschen Gefängnis. Der festen Familienbande oder der kriminellen Karriere ist so eine Pause nicht abträglich. Dass solche Familienstrukturen inzwischen Auswirkungen auf das Leben der rechtschaffenen Bürgerinnen und Bürger haben, formulierte Franziska Giffey, noch als Bürgermeisterin von Neukölln gegenüber der Berliner Zeitung: „Wir haben am S-Bahnhof Hermannstraße pro Jahr dreitausend Straftaten. Dreitausend!“ 
Frau Giffey in Chemnitz
Zufall, oder nicht – dass die ehemalige Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln als amtierende Familienministerin Franziska Giffey das bislang einzige Mitglied der Bundesregierung ist, das am Ort der tödlichen Messerattacke vom vor-vor-vergangenen Wochenende erschien, wirft ein Licht auf ein anderes Phänomen, dass durchaus im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten wie in Berlin gesehen werden kann. Der sich strukturierende Widerstand doch inzwischen signifikanter Menschengruppen, die sich der so genannten „Pegida“, der „AfD“ oder so genannten „Trauermärschen“ anschließen, vor allem im Osten unseres Landes. In den Medien werden diese Menschengruppen als „rechter Rand“, Nazis und Ausländerfeinde bezeichnet.
Warum diese Relativierung? Werden diese Menschen von den Medien nur als Nazis beschrieben oder sind sie tatsächlich in der Wolle gefärbte Nationalsozialisten? Hier hilft ein interessanter Blick nach Frankreich. Der Sozialgeograph Christophe Guilluy macht dort von sich reden und Stefan Zenklusen, Autor des Buches „Islamismus und Kollaboration“ fasst die Thesen Guilluys in einem Interview zusammen: „Guilluy konstruiert das Bild eines Landes, das nicht zwischen Stadt und Land unterscheidet, sondern zwischen Bewohnern von soziökonomisch “fragilen”, abgehängten Gebieten, die rund 60% der Einwohner umfassen, und denjenigen Teilen des Landes, die in einer Metropolregion eingebunden sind. (…) Die Bewohner des peripheren Frankreichs sind die eigentlichen Verlierer der sozialökonomischen Entwicklung im Rahmen der Globalisierung. Demgegenüber befinden sich die Banlieues in einem Raum mit vielen Arbeitsplätzen, es ist eine nicht zu unterschätzende soziale und geographische Mobilität zu verzeichnen.“ Nun ersetzen wir das Wort „Banlieue“ einmal mit „Kiez“ und führen uns vor Augen, dass die wirtschaftlich „abgehängten Gebiete“ in Deutschland trotz Soliaritätszuschlag und teurer Infrastrukturprojekte weiterhin auf dem Gebiet der ehemaligen DDR liegen. Wie auch im peripheren Frankreich zählen die dortigen Bewohner zu den Verlierern der Globalisierung. Zenklusen beschreibt noch einmal Guilluy: „Nicht zuletzt, weil es im peripheren Frankreich viele Front National-Wähler gibt, würden dessen Bewohner als provinzielle Ignoranten karikiert. In Wirklichkeit, so Guilluy, seien es aber oft gerade diese Menschen, die auf handfeste Weise mit den Folgen der Globalisierung und der Immigration konfrontiert werden oder wurden.“ Willkommen in Chemnitz. 
Der kriminelle Ausländer als Feindbild
Doch was hat das mit den kriminellen Clans in Berlin zu tun? Sehr viel. Denn es gibt diese ausländisch-kriminellen Strukturen eben nicht nur in Berlin, sondern in allen Metropolen Deutschlands und Europas. Und sie arbeiten zusammen, dealen mit Drogen, schmuggeln gefälschte Produkte oder Zigaretten, brechen in Einfamilienhäuser ein oder klauen Autos. Professor Arndt Sinn von der Universität Osnabrück ist Rechtswissenschaftler und beschäftigt sich mit der Organisierten Kriminalität. Er berät unter anderem Europol und ist Sachverständiger für den Deutschen Bundestag. Der Experte hält beeindruckende Zahlen parat. In Europa sind 5.000 „Organized Crime Groups“ bekannt. Ihre Mitglieder kommen aus 180 verschiedenen Nationen. 70 Prozent dieser Gruppen sind international aktiv und 45 Prozent dieser Klientel sind „polycrime“, das heißt, gleichzeitig in mehreren Kriminalitätsfeldern aktiv. Kriminalität als umfassendes Geschäftsprinzip.
Negative Projektionsfläche der Rechtsnationalen ist dieser „kriminelle Ausländer“ und der findet sich nun einmal in den kriminellen Clanstrukturen geradezu phänotypisch und wird entsprechend medial verbreitet. Kommen wir dabei zurück auf Stefan Zenklusen und „leihen“ uns seine Sicht auf die französischen Banlieues. Was macht diese Gebiete zu von Clans und von einzelnen Familien dominierten Gebieten, außerhalb der staatlichen Ordnung? Nach Zenklusen ist es nicht die soziale Not an sich, die diese Strukturen entstehen ließ. Ganz im Gegensatz zum peripheren Frankreich gibt es in den Metropolregionen Frankreichs nämlich durchaus Perspektiven und Jobs. Allerdings ist es das patriachalisch-hierarchische System der Einwandererfamilien. Es sind vor allem die Väter, die ihre mangelnde Kompetenz im Umgang mit den modernen Strukturen eines Rechtsstaats überkompensieren durch eine Verstärkung des patriarchalischen Drucks. Die Familie muss „zusammenhalten“ und der Vater ist der Chef – ein Generationen übergreifendes Prinzip. Mangelnde Orientierung im Rechts- und Wertesystem des Landes und fehlende Sprachfähigkeiten führen geradezu zwangsläufig dazu, dass diese Familien unter sich eine Art „Ersatzwirtschaft“ schaffen, die häufig dann auch nicht mit den (unbekannten und verachteten) Regeln und Gesetzen des Aufenthaltslandes vereinbar ist und man sich bei Streitigkeiten dann eben auch aus diesem Grund nicht auf den Rechtsstaat, sondern lieber auf den Bruder oder Cousin verlässt, der die Sache mit dem Messer regelt. Ein sich gegenseitig befruchtendes kriminelles Milieu. Gilt das allenorts in Europa? Wir haben dazu bei Stefan Zenklusen nachgefragt. Er meint: „Die Gangs in den Banlieues sind möglicherweise heterogener strukturiert als etwa in Berlin. Großfamilien spielen dort nach meiner Einschätzung eine geringere Rolle als in gewissen Quartieren in Deutschland. Aber grundsätzlich spielen sicher ähnliche Mechanismen.“
Nimmt man diese Grundannahmen an, verändert sich das Bild sowohl auf die rechtsnationalen Demonstrationen in Chemnitz wie auch auf die kriminellen ausländischen Clanstrukturen. Beiden Gruppen ist gemein, dass sie am Rande oder außerhalb des Wirtschaftsprozesses existieren. Um Pässe oder Parteien, um Politik geht es vielen der Mitläufer, wenn überhaupt, erst in zweiter Linie. Das ist eine wesentliche Erkenntnis, wenn es um die Suche nach politischen Lösungen geht. Einen arabischen Clan in Berlin oder Duisburg oder Drogendealer in Chemnitz bekämpft man eben nicht allein nachhaltig mit einem starken Staat und einer gepanzerten Polizei. Integrationsarbeit muss den Familienmitgliedern einen „Exit“ aus dem bedrückenden und gefährlichen patriarchalischen System geboten werden. Einen ebensolchen „Exit“ aus der wirtschaftlichen Misere haben die Menschen in Ostdeutschland verdient. Eine Lösung, die viel mit Perspektive und wenig mit Politik zu tun hat.

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