Demonstrieren für den ….? Egal. Wirkt.

Trotz Social Media, Twitter & Co. formieren sich immer mehr Demonstrationen. Ist das nur ein Ventil für die Beteiligten oder bewirken diese Proteste tatsächlich etwas? Eine Studie aus den USA schafft Klarheit.

 

Die Zeiten, in denen die Friedensbewegung in Deutschland gegen den NATO-Doppelbeschluss oder die Arbeiterklasse für die 35-Stunden-Woche auf die Straße gingen, sind lange vorbei. Die Bereitschaft, bei Wind und Wetter seiner politischen Überzeugung mit Hilfe von mittelalterlich anmutenden Plakaten und lautem Rufen Ausdruck zu verleihen, hat jedoch nicht abgenommen – im Gegenteil. Marschieren für den Frieden ist wieder „In“ – und zwar nicht nur für den Frieden, Zusammehalt und Versöhnung. Auch die Spalter und Nationalen gehen vermehrt auf die Straße. Und ihre Proteste sind sogar wirksamer.

 

Kurz nach verstörenden Ereignissen, wie denen in Chemnitz bilden sich quasi aus dem „Nichts“ Aufmärsche. Und sie halten durch, sind wohl organisiert. Waren die Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR noch entstanden, um die einzige Möglichkeit zu nutzen, einer staatsfeindlichen Meinung Gehör zu verschaffen, haben Demonstrationen diese Funktion insbesondere in Zeiten der mannigfaltigen Internet-Aktivitäten und eines toleranten demokratischen Staates verloren. Niemand muss heute mehr auf die Straße gehen oder auf die Straße blicken, um festzustellen, dass es eine lebhafte Gegenkultur im rechten und linken Spektrum gegen die jeweils Herrschenden, gegen Ausländer, gegen Hass, gegen Atomkraft, Braunkohle und sonst so gibt.

 

Warum also der “Run” auf eine scheinbar veraltete Protestform? Daniel Q. Gillion und Sarah A. Soule haben in ihrem Artikel „The Impact of Protest on Elections in the United States“ für die dortigen Verhältnisse herausgearbeitet, dass Demonstrationen auch in modernen Zeiten höchst wirksam ist. Sie stellen fest: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Proteste, die liberale Anschauungen ausdrücken, zu einen besseren Wahlergebnis für demokratische Kandidaten führen, während Proteste, die konservative Meinungen artikulieren, für republikanische Kandidaten einen politischen Gewinn darstellen. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass Protest immer auch ein Gradmesser dafür ist, wie sehr die aktuellen Politiker die Anliegen der Bevölkerung berücksichtigen.“ Dabei ist davon auszugehen, dass insbesondere konservative, rechtsnationale Demonstrationen eine höhere Wirkung in der Öffentlichkeit bei amtierenden Politikern, der allgemeinen Öffentlichkeit und der eigenen Klientel entfalten, da derartige Aktivitäten aus diesen Kreisen in der Vergangenheit eher unüblich waren. Demonstrationen sind nicht nur freiheitliches Bürgerrecht gegenüber einem mächtigen Staat. Sie sind wirksames Lobbyinstrument und beeinflussen Wähler*innen und Wahlen.

 

Natürlich sind die politischen Bedingungen in den USA mit denen in Deutschland nur bedingt vergleichbar. Aber auch der starke Anstieg von Demonstrationen hierzulande zeigt, dass die jeweiligen Organisationen die Wirkung von Straßenprotesten hoch einschätzen – zumal sie wiederum sowohl im Internet als auch in den klassischen Massenmedien überproportionale Verbreitung finden. Ebenso sind die Nutzung von Demonstrationen im Zusammenwirken mit neuen Medien ein globales Phänomen. Herleitungen auf die deutschen Verhältnisse sind daher opportun. Die Medienschaffenden müssen sich hierzulande also sehr wohl fragen, ob sie ihrer Verantwortung tatsächlich bewusst werden, wenn zum Beispiel nach dem Tötungsdelikt von Chemnitz über lange Zeit die Demonstrationen Anlass für ausgeweitete Berichterstattung sind. Sie verschaffen einer bestimmten politischen Gruppierung einen wirksamen kommunikativen Vorteil. Es ist schließlich nicht Aufgabe der Medien, regionale Vor-Ort-Veranstaltungen medial zu potenzieren, wenn diese mediale Breitenwirkung in ganz Deutschland ausdrücklich dem Willen der Organisatoren entspricht.

 

Viele wissen also um die starke Wirkung machtvoller Aufmärsche auf die eigene Klientel. Nicht umsonst erleben Demonstrationen heute einen Boom. Die Demonstrierenseite von www.analogo.de macht auf eine fast unüberschaubare Anzahl von Versammlungen und Aufmärschen in Deutschland aufmerksam. Allerdings nur bis zum September 2017. Danach heißt es von den Initiatoren: „Wir machen ein Päuschen mit der Demo-Berichterstattung. Zugegebenermaßen kam von Euch zu wenig Dank und Geld: Ihr seid ins Internet gegangen, habt Euch für umme den Demoüberblick geholt, und seid schweigend weitergezogen. Wertschätzung geht anders. Für welche Werte geht Ihr demonstrieren?“ Als Geschäftsmodell scheinen zumindest die Internetangebote zu Demonstrationen nicht zu taugen. Wohl aber liegt es vielmehr daran, dass die jeweiligen Organisationen inzwischen sehr professionell ihre eigenen Anhänger über die sozialen Medien mobilisieren können. Ein Instrument, dass vor Mail, Twitter und Facebook so noch nicht vorhanden war. Eines, das fein ausgerichtete ist auf die medialen Bedingungen in den Massenmedien. So schafft es der Protest weniger Hunderter in die Wohnzimmer von Millionen.

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