„Gemeinsames deutsch-französisches Weißbuch als nächster Schritt“
Die „Permanent Structured Cooperation (PESCO) der Europäischen Union wird als „Game Changer“ in der Europäischen Sicherheitspolitik beschrieben. Stimmt das? Oder ist die Initiative einmal mehr ein zahnloser Papiertiger, wie wir ihn in der Vergangenheit nur zu oft gesehen haben?
Die „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) berät unter anderem die Bundesregierung in sicherheitspolitischen Fragen. Der etablierte ThinkTank mit Sitz im reichen Berliner Stadtteil Charlottenburg ist so etwas wie ein Eckpfeiler der sicherheitspolitischen Community in Deutschland. Nun haben Dr. Ronja Kempin, Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU/Europa und Rosa Beckmann, Mitarbeiterin der SWP in Brüssel, dazu aufgefordert, eine politische Auseinandersetzung mit den Reformzielen der GSVP zu wagen. Wir haben das Papier für Sie zusammengefasst und mit Rosa Beckmann im Anschluss darüber diskutiert.
„Im Juni 2016 wurde die »Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union« (EUGS) veröffentlicht. (…) Die EUGS hat in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine ungeahnte Dynamik entfaltet – auf einem Feld also, das bislang von europäischen Integrationsschritten im Sinne der Vergemeinschaftung weitgehend ausgespart blieb.“
Die Reformagenda der GSVP soll in drei Bereichen wirken: „Erstens soll die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) aktiviert werden, die im Lissabonner Vertrag unter Artikel 42 Absatz 6 vorgesehen ist. Dieses Format erlaubt es Mitgliedstaaten, »die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weitergehende Verpflichtungen eingegangen sind«, enger zusammenzuarbeiten als im Rahmen der EU-27. Nach den Bestimmungen von Artikel 46 steht PESCO allen Mitgliedstaaten offen. Strittig sind jedoch die Kriterien, die sie dafür erfüllen müssen – der Vertragstext
ist hier nur vage formuliert. Zweitens soll künftig über eine Koordinierte Jährliche Überprüfung der Verteidigung (CARD) ein systematischer Austausch zwischen den Mitgliedstaaten zu ihren Verteidigungsplänen institutionalisiert werden. Dieser Prozess untersteht der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA). Er soll dazu beitragen, Lücken in den militärischen wie zivilen Ressourcen der Mitgliedstaaten zu erkennen und zu schließen.
Drittens hat die Kommission gemeinsam mit den Mitgliedstaaten beschlossen, einen Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) zu schaffen. Er soll einen finanziellen Anreiz dafür bieten, beim Erwerb militärischer (Kern-) Fähigkeiten zu kooperieren. Schließen sich mindestens drei EU-Staaten zusammen, um Verteidigungsgüter und -technologien zu entwickeln und zu beschaffen, können entsprechende Vorhaben über den EVF kofinanziert werden. Dadurch sollen Staaten und Unternehmen künftig kostengünstiger wirtschaften; besonders begünstigt werden sie, wenn ihre Kooperation im Rahmen der PESCO erfolgt. (…) In der Frage, welche Kriterien die Mitgliedstaaten erfüllen sollen, um eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit eingehen zu können, stehen sich gegenwärtig zwei Ansätze gegenüber: eine auf ambitionierte, exklusive Vorgaben ausgerichtete Agenda und ein inklusives Modell, mit dem verhindert werden soll, dass ein sicherheits- und verteidigungspolitisches Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten entsteht.
(…) Gemäß Lissabonner Vertrag soll die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit nicht allein die operativen Fähigkeiten der EU-Staaten stärken. Vielmehr soll sie der erste Schritt hin zu einer europäischen Verteidigungsunion sein. Der konkrete Weg dafür ist bislang jedoch nicht vorgezeichnet. Sobald PESCO aktiviert ist, sollte Deutschland daher gemeinsam mit Frankreich einen Reflexionsprozess anstoßen, der darauf zielt, eine Roadmap für die Verteidigungsunion zu entwerfen.“
Zeitfenster nutzen
Die Autorinnen weisen darauf hin, dass in den kommenden vier Jahren keine wegweisenden Wahlen anstehen, weder in Frankreich noch in Deutschland. Ein Zeitfenster, das genutzt werden sollte, um „etwa ein Non-Paper vorzubereiten, in dem Deutschland und Frankreich die Gemeinsamkeiten in der Bedrohungswahrnehmung herausarbeiten und daraus Fähigkeitsziele ableiten.“ Auch ein gemeinsames „Weißbuch“ zur europäischen Verteidigungspolitik wird erwähnt.
Das FVS sprach über die Vorschläge der SWP mit Rosa Beckmann, einer der Autorinnen:
Sie fordern eine politische Auseinandersetzung mit den Reformzielen der GSVP. Mangelt es denn tatsächlich am politischen Diskurs oder nicht vielmehr am konsequenten Handeln? Diskutiert über die GSVP wird schließlich schon seit Jahrzehnten.
Wenn wir in dem Papier von einer politischen Auseinandersetzung sprechen, so zielen wir damit vor allem auf die Notwendigkeit ab, dass die Mitgliedstaaten einen längst überfälligen Reflexionsprozess zu den Zielen, die sie mit der GSVP erreichen wollen, anstoßen. Im nächsten Schritt müssen aus dieser Zielsetzung geeignete Maßnahmen abgeleitet werden, die wiederum zu einer Auseinandersetzung über die Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und EU-Institutionen, aber auch zwischen EU und Nato führen. Erst dann kann es um eine konsequente Umsetzung dieser Neuerungen gehen.
Sie schreiben davon, dass bis Herbst 2017 die ehrgeizigen Zielvorgaben im Detail ausgearbeitet worden sein sollen. Streng genommen steht der Herbst ja schon vor der Tür. Was ist bis jetzt Fakt und wann folgt der Rest der Klärung von Einzelaspekten?
In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 22. Juni 2017 setzen die Mitgliedstaaten sich eine dreimonatige Frist, um Kriterien für PESCO vorzulegen. Damit sind konkrete Vorschläge bis Ende September zu erwarten – wobei beispielsweise bereits ein deutsch-französisches Papier vorliegt. Die Diskussionen zu den Details von CARD und EVF werden ebenfalls momentan geführt – Ziel ist es, im Rahmen der nächsten Ratssitzung im Dezember bereits Kompromisse zu finden. Für die Finanzierung des EVF stehen bis 2020 Gelder zur Verfügung; über eine Weiterfinanzierung sowie über die Frage nach der Aufsicht über die Bewilligung von Mitteln aus dem Fonds müssen Mitgliedstaaten und Kommission sich noch einigen.
PESCO fordert Verteidigungsausgaben in der Höhe von zwei Prozent des Bruttonationalproduktes. Wie realistisch sind solche Vorgaben, wenn insbesondere Deutschland als Ankernation dieses Ziel absehbar nie erfüllen wird, egal wie die Bundestagswahl 2017 ausgeht?
Zunächst einmal entspricht die Zwei-Prozent-Zielvorgabe den Forderungen, die sich die Nato-Mitglieder bereits seit Jahren geben. Damit nehmen Frankreich und Deutschland ein wichtiges politisches Statement in die GSVP auf – nämlich, dass sie ebenso ambitioniert und anspruchsvoll ist wie die Nato. Zu bedenken bleibt außerdem, dass Mitgliedsstaaten sich für die Teilnahme an PESCO dem Erreichen des Zwei-Prozent-Ziels lediglich graduell und auf langfristige Sicht verschreiben müssen. Sie verpflichten sich über einen Eintritt in PESCO, innerhalb der nächsten zehn Jahre ihre Verteidigungsausgaben entsprechend anzupassen. Damit kann es als vielversprechendes Zeichen gewertet werden, dass sowohl Deutschland als auch Frankreich – die bislang beide weniger als zwei Prozent des Bruttonationalprodukts für Verteidigungsausgaben aufbringen – diese Bedingung in den Kriterien für PESCO verankern wollen.
Sie bringen die Erarbeitung eines gemeinsamen Weißbuchs ins Spiel, dass Frankreich und Deutschland entwickeln könnten. Trotz aller Freundschaft und Gemeinsamkeiten: sind die Interessen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und ihrem Fokus auf Afrika und des kontinentalen Zentralstaats Deutschland mit seiner Affinität und Nähe zu Osteuropa und Russland nicht zu unterschiedlich? Wäre es nicht eher im Sinne gut gelebter Freundschaft zwischen den beiden Nationen, wenn eine sicherheitspolitische Trennungslinie genau an der deutsch-französischen Grenze existieren würde – Frankreich als Akteur Richtung Afrika, Deutschland als Anlehnungsmacht und Partner Russlands?
Deutschland und Frankreich haben sich bereits zu ihrer Motor-Rolle in der GSVP bekannt und haben ihr auf verschiedene Art und Weise entsprochen. Zu nennen sind ein gemeinsamer Brief der Außenminister anlässlich von Kommissionspräsident Junckers Weißbuch zur Zukunft der EU sowie natürlich die gemeinsam vorgelegten Kriterien für PESCO und Vorschläge für mögliche Projekte mit Finanzierung durch den EVF. Damit beschreiten beide Länder einen Weg, der darauf ausgerichtet ist, Trennlinien nicht zu verschärfen, sondern zu überwinden – und in diesem Sinne auch die Zukunft des europäischen Projekts zu skizzieren. Ein gemeinsames Weißbuch zur europäischen Verteidigungspolitik kann ein nächster Schritt sein. Ein solches Papier würde Gemeinsamkeiten in der Bedrohungsevaluierung und den sicherheits- und verteidigungspolitischen Präferenzen der EU-Mitgliedstaaten herausarbeiten und damit maßgeblich zu dem von uns geforderten politischen Diskurs über die Zukunft der GSVP beitragen.
Vielen Dank, Frau Beckmann, für das Gespräch.
Die Analyse „EU-Verteidigungspolitik braucht Strategie“ finden Sie hier.