Zahlenspielerei

Wenn mit Zahlen hantiert wird, ist Vorsicht geboten. „200 Prozent Steigerung“ klingen gewaltig, vor allem wenn es sich dabei noch um Tote handelt. Wenn jedoch unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, führen an sich richtige Werte zu falscher Politik.
Vielfach wird auch in der Sicherheit mit Zahlen hantiert – und damit Politik gemacht. Ebenso oft passiert es nämlich, dass sie wie im oben genannten Beispiel verwendet werden. Das betrifft nicht nur Zahlen wie Rüstungsquoten, sondern auch die Zahlen von Opfern und Toten in den Kriegen der Welt. Nun kann man durchaus kritisch bemerken, dass das Hantieren mit Zahlen, wenn es um Opfer und Tote geht, grundsätzlich zynisch ist. Leider ist es aber nun einmal Fakt, dass Zahlen erst Dimensionen verdeutlichen und damit der Öffentlichkeit vermitteln, wie wichtig oder unwichtig etwas ist. Große Zahlen bedeuten Wichtigkeit, kleine Zahlen vermitteln Bedeutungslosigkeit. Bei großen Zahlen wird gehandelt, bei kleinen nicht. So zumindest die Theorie.
So meldet „Die Zeit“ mit Verweis auf den Global Peace Index (GPI): „Insgesamt stieg die Zahl der Menschen, die in Konflikten getötet wurden, laut GPI im Zeitraum von 2006 bis 2016 um 264 Prozent.“ Eine dramatische Zahl. “Hier muss man doch sofort etwas tun”, ist man geneigt sofort auszurufen. Die pauschale Darstellung verschweigt jedoch, dass eben dieser GPI auch darlegt, dass die Zahl der Toten in externen Konflikten gesunken und in internen Scharmützeln gestiegen ist. Bürgerkriege – also Bürger, die Kriege anzetteln sind weitaus häufiger und tödlicher, als die vermeintlich aggressiven Staaten, die Kriege beginnen.
Kommen wir zu konkreten Zahlen. Interessant, dass zum Beispiel die Anzahl der Toten durch weltweite Terrorattacken bei 32.000 Menschen pro Jahr lag. Hier muss man jedoch schon auf 2014 verweisen. Seitdem sinkt diese Zahl nämlich stetig. Das Jahr 2014 markiert demnach ohnehin einen Wendepunkt. Insgesamt kamen in bewaffneten Konflikten weltweit in dem Jahr rund 180.000 Menschen zu Tode. Seitdem sinkt die Zahl stetig. Mit Blick auf die Weltereignisse in diesem Jahr wird schnell klar, dass es vor allem der bewaffnete Konflikt in Syrien war, der erheblich zu diesen Werten beigetragen hat. Ein Bürgerkrieg also. Die Anzahl der regulären Soldaten, die in den letzten 25 Jahren in kriegerischen Auseinandersetzungen getötet wurden, liegt bei lediglich 3 Prozent. Denkt man diese Zahlenspielerei also konsequent zu Ende, wird schnell deutlich, dass der angeblich sehr gefährliche Beruf des Soldaten jedoch ein ziemlich sicherer Job ist, verglichen mit dem Blutzoll der Zivilbevölkerung in Krisengebieten.
Durch das pseudo-faktische Zerrbild in der medialen Berichterstattung sind uns in Westeuropa jedoch diese Konflikte und das damit verbundene zweifelsfrei bestehende Leid sehr nah. Problematisch ist diese Sichtweise jedoch dann, wenn auf faktische und unmittelbar für die eigene Bevölkerung wirkende Gefahren nicht ebenso entsprechend alarmiert und reagiert wird. 
Viel „gefährlicher“ für die deutsche und europäische Bevölkerung als die kriegerischen Auseinandersetzungen in aller Welt ist zum Beispiel Diabetes. Daran sterben laut Zahlen aus dem Jahr 2010 rund 175.000 Menschen in Deutschland. Der Verweis auf „2010“ zeigt, dass aktuelle Daten fehlen. In eine massiv letal wirkende Richtung wird also nur unzureichend geschaut, in andere nahezu gar nicht. Während in Deutschland rauf und runter über Terrorismus diskutiert wird, sind seit 2015 in Deutschland 13 Menschen gestorben. Im selben Zeitraum sind mehr als 500.000 Menschen an Diabetes verstorben. Das sind jedoch nur grobe Schätzungen. Zahlen zu erheben kostet Geld. Dieses Geld wird in Bereichen mit hoher politischer Aufmerksamkeit verwendet.
Nun könnte man Verständnis dafür haben, nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Krankheiten, wie Diabetes, sind erblich bedingt und damit schicksalhaft und nicht politisch beeinflussbar und sie sind vor allem verhaltensbedingt. Wer jahrelang und permanent durch Eigenkonsum Übergewicht verursacht, der darf sich eben nicht wundern, auch daran zu sterben. Wer raucht und trinkt und über alle Maßen frisst, der stirbt auch früher. Das lernt man schon im Kindergarten. Mit Aufklärung haben Schulen und Behörden hier ihre Pflicht getan. Die Grenze staatlichen Handelns ist schließlich dort erreicht, wo der Einzelne selbstbestimmt einen – wenn auch tödlichen – Weg gehen möchte.
Gefährlich und definitiv in den Zuständigkeitsbereich staatlich-regulativen Handelns gehören jedoch tödliche Risiken, die Menschen in Gefahr bringen, ohne dass sie dies ausdrücklich selbstbestimmt wünschen. Wie im Straßenverkehr. Dort sterben pro Jahr über 3.000 Menschen. Dort könnte man noch argumentieren, dass ein Mensch sich grundsätzlich freiwillig der Gefahr aussetzt. Dennoch hat der Staat ein Augenmerk darauf, Gefahren zu minimieren. Radarfallen sind häufig, Straßen sind sicher, Ampelanlagen funktionieren. Milliarden an Kosten für die Sicherheit von Millionen Menschen.
Doch Millionen Menschen werden auch jedes Jahr krank – und sie sterben. Sie sterben aber nicht nur auf Grund ihrer Krankheiten, sondern auch in signifikantem Ausmaß an falschen Behandlungen. Studien gehen davon aus, dass in Deutschland jährlich rund 58.000 Menschen an unerwünschten Wechselwirkungen von Medikamenten sterben. Professor Andreas Sönnichsen, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Witten/Herdecke, stellt gegenüber der Rheinischen Post fest: „Fast ein Drittel der Medikamente werden ohne Evidenzbasis verschrieben. Das heißt, dass es keinen wissenschaftlichen Nachweis für den Nutzen gibt.“ Medikamente, deren Wirkung vermutet und erhofft wird, jedoch nicht bewiesen ist. Schlimmer noch: Medikamente, die mit anderen Wirkstoffen in Wechselwirkung stehen und wiederum unvermutete Konsequenzen mit sich bringen.
Wohlgemerkt, hierbei handelt es sich um offizielle Medikamente, von ausgebildeten Ärzten verschrieben. Man stelle sich nur das Ausmaß der Empörung vor, es würden in jedem Jahr knapp 60.000 Menschen an Terrorattacken sterben, bei denen Polizisten die Attentäter zum Tatort geleitet hätten. Wenn in anderen Bereichen, wie im Gesundheitssektor, Ähnliches passiert: Schulterzucken. Darüber hinaus wird in statistikfreien Bereichen nahezu unverblümt Politik gemacht, ohne „Evidenz“, wie man es als Mediziner bezeichnen würde. Hinlänglich bekannt ist die Diskussion über Dieselfahrverbote in deutschen Innenstädten, wo doch gar nicht klar ist, wie gefährlich Feinstaub tatsächlich ist. 
Dahingegen wird in Bereichen mit glasklarer Tödlichkeit fast gar nicht geforscht oder ermittelt. Gefälschte Produkte sind ein solches Beispiel. Wieder Arzneimittel: Hier lassen sich wenigstens noch halbwegs Todeszahlen finden, bei anderen Produktkategorien findet man diese überhaupt erst gar nicht. Das übliche Medien- und Statistikkalkül: Keine Zahlen = keine Toten = kein Problem. Laut Schätzungen sterben jedoch weltweit bis zu einer Million Menschen an gefälschter Medizin. Das sind fünfmal mehr Menschen als die aktuelle Zahl der Kriegstoten. Mehr als eine Spartenmeldung ist das jedoch nicht wert. Sicherheitspolitik kann und sollte man nicht nur an zynischen Zahlenspielereien festmachen. Man sollte Zahlen und Relationen jedoch auch nicht gänzlich missachten.

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